Gerade verbreitet die AOK, dass die Preise für neue Arzneimittel zu hoch wären. Sie schlägt wieder in die erfolgreiche Kerbe des Pharmabashings, um sich nicht selbst und die eigene Politik zu hinterfragen. Dabei zeigt die verlinkte Grafik auf pharma-fakten.de, dass die Preise von Arzneimitteln sich gar nicht nach oben entwickeln, sondern auffallend stabil bleiben.
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Richtig ist, dass Innovationen nur für einen kleinen Kreis von Patient:innen in Frage kommen, sprich eine geringe Versorgungsweite haben, wie es die AOK ausdrückt. Das liegt daran, dass Innovationen gegen Krebs, seltene Erkrankungen, schwere chronische Erkrankungen, z. B. Hepatitis C und D, rheumatische Erkrankungen, Lupus etc. entwickelt worden sind. Diese Krankheiten möchten die meisten von uns bestimmt nicht haben. Und wir sollten uns freuen, dass den Menschen, die unter diesen sehr unschönen Krankheiten leiden, immer mehr Therapieoptionen angeboten werden können.
Oft sind es also Biologika oder die sog. Small Molecules, die auf den Markt kommen. Die sind teuer, richtig. Aber wie gesagt, sie sind nur für sehr wenige gesetzlich versicherte Menschen notwendig, deshalb schlagen sie insgesamt auch nicht sehr zu Buche, wie die obige Grafik zeigt.
Das Problem, dass die Einnahmen nur knapp über den Ausgaben bei den gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) liegen, hat andere Gründe. Und sie liegen unter anderem – man mag es nicht gerne hören – an den Kassen selbst, der Struktur der GKV und durchaus auch an der Selbstbedienungsmentalität der Patient:innen.
Gibt es zuviele Krankenkassen?
Klares ja. Für jede gesetzliche Krankenkasse braucht es eine Geschäftsführung bzw. einen Vorstand. Das geht ins Geld. Denkt man alternativ in Richtung Einheitskasse – wie die NHS (National Health Service) in Großbritannien – spart man zwar diese Gehälter, es fehlt aber wiederum ein Korrektiv. Denn durch eine Konkurrenzsituation unter den Kassen können bessere Leistungen für Patient:innen erzielt werden. Das ist zumindest die Idee hinter dem deutschen System mit mehreren Krankenkassen.
Das klappt aber schon deshalb nicht so wie gedacht, weil es einen Leistungskatalog gibt, was die GKV erstatten muss und was nicht. Alles weitere, was als Wettbewerbsvorteil ausgespielt wird, dient nicht der Gesundheit sondern dem Marketing und ist oft als „halbseiden“ zu bezeichnen, z. B. Kostenerstattungen für homöopathische Anwendungen. Es gibt also keine wirkliche Wettbewerbssituation.
Können auch Krankenkassen sparen?
Aber klar, beispielsweise an:
- Werbung
- Homöopathie und nicht belegte sog. Alternativanwendungen, z. B. Bioresonanz oder Akupunktur, die tatsächlich von einigen GKVen bezahlt werden
- Heilpraktikerbesuchen werden von der privaten Krankenversicherung – je nach Tarif – bezahlt, können aber in einigen Fällen auch zulasten der GKV gehen, meist über ein Bonussystem
- Sportkursen, denn jeder kann sich einen Sportverein leisten, deshalb werden diese subventioniert
Ärgerlicherweise können Privatversicherte in ihrem Tarif Heilpraktiker und Alternativanwendungen oft nicht abwählen, sie müssen diese mitbezahlen.
Am liebsten sparen Krankenkassen aber an teuren Patient:innen. Bei privaten Krankenkassen war dies bekannt, bei gesetzlichen Krankenkassen ist man eigentlich nicht davon ausgegangen. Andere Methoden, um Kosten zu sparen, fanden die Krankenkassen ebenfalls, wir haben darüber berichtet: Upcoding – neues Geschäftsmodell der Krankenkassen. Sie sind durch das Faire-Kassenwettbewerb-Gesetz mittlerweile unterbunden.
Wie sparen Krankenkassen und Politik am liebsten?
Durch Gängelung von Ärzten
Das Stichwort lautet Regresse. Es gibt die Behauptung, es gäbe keine Regresse. Falsch, Ärzte und Ärztinnen bekommen jedes Quartal Regresse. Sie sind manchmal relativ klein und werden deshalb nicht an die große Glocke gehängt, aber sie nerven.
Ein Beispiel: Als es noch keinen Covid-19-Impfstoff gab, wurde allen Menschen 60+ und Vorerkrankten geraten, sich doch gegen Pneumokokken impfen zu lassen. Eine sehr vernünftige und sinnvolle Empfehlung. Schnell war in der Apotheke der Sprechstundenbedarf für Pneumovax in der Apotheke vergriffen. Nachvollziehbar.
Es wurde dann den Patient:innen geraten, sich ein Einzelrezept von dem behandelnden Arzt/der Ärztin ausstellen zu lassen. Auch eine sehr vernünftige, wenn auch für die Ärzt:innen aufwendige Empfehlung. Der kamen viele Menschen nach.
Und was macht bei der Abrechnung des Quartals 2/2020 die VIACTIV Krankenkasse? Sie leitet wegen jeder einzelnen Verordnung einer Pneumovaxx-Impfung einen Regress über 41,70 Euro ein. Diese Kosten möchte sie nicht übernehmen. Der bzw. die betroffene Mediziner:in darf also jedem einzelnen Regress widersprechen, damit er/sie nicht auf den Kosten sitzen bleibt. Unverschämt!
Diese Regresspraxis haben die Krankenkassen übrigens auch für andere Impfungen durchgezogen.
Durch Gängelung von Apotheken
Wir haben in einem der letzten Blogartikel schon darüber geschrieben, dass die Stimmung der Apotheken auf dem Tiefpunkt ist. Die Retaxierungen sind nicht nur ärgerlich und lästig, sie greifen auch tief in den Umsatz der Apotheke ein und gefährden ihr Überleben. Für diese Art des Umgangs mit den Apotheken fehlen einem die Worte.
Durch Gängelung der Arzneimittelhersteller
Egal um welche Reform es sich handelt, es wird als erstes die „teure“ Pharma zur Kasse gebeten. Dabei war das genau der Fehler in der Vergangenheit und hat die deutsche bzw. europäische pharmazeutische Industrie ausbluten lassen. China und Indien hat es gefreut. Und wir stehen nun in Europa riesigen Lieferschwierigkeiten gegenüber!
Herrn Lauterbach fällt nur ein, das Minus bei den Kassen durch eine Erhöhung des Herstellerabschläge auf 12 % auszugleichen (begrenzt auf ein Jahr, wenn es dabei bleibt). Die gesetzlichen Krankenkassen lässt er unangetastet.
Brauchen wir eine Einheitskasse?
Nicht wirklich. Wie schon oben angesprochen, Konkurrenz zwischen Krankenkassen ist im Prinzip gut. Bei einer Einheitskasse fehlt der Wettbewerb und am Ende des Tages muss eine Einheitskasse überhaupt nicht preiswerter sein als mehrere konkurrierende. Man sieht die Auswirkungen bei der NHS in Großbritannien, auch wenn es während der Corona-Pandemie durchaus Vorteile der NHS gegenüber unserem Gesundheitssystem gab.
Was brauchen wir dann?
Alle paar Jahre gibt es Reformen. Im März 2020, also gerade am Anfang der Corona-Pandemie, trat das Faire-Kassenwettbewerb-Gesetz in Kraft – noch von dem damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn initiiert. Nun ist der neue Gesundheitsminister Lauterbach an einigen Reförmchen dran. Es zeichnet sich ab, dass diese kein großer Wurf werden und ohne Hellseher zu sein, kann man festhalten, dass die Kassen nicht in die Pflicht genommen werden.
Wir müssen vielleicht ein paar alte Zöpfe abschneiden und folgende Punkte diskutieren:
- Statt einer Familienversicherung doch eine Kopfpauschale, inkl. Kinder? Können dadurch möglicherweise sogar Beiträge für alle sinken?
- Sind höhere Eigenleistungen für Patient:innen sinnvoll, auch für medizinische Leistungen, nicht nur für Arzneimittel? Davon wäre vor allem die arbeitende Bevölkerung betroffen, die mit ihren Steuern das System sowieso schon querfinanziert. Außen vor wären die sozialgestützten Gruppen, die auch jetzt von allen Zusatzkosten befreit, aber deshalb nicht weniger krank sind.
- Wie kann man das Ausnutzen von Versicherungsleistungen durch Patient:innen verhindern? Wer nutzt das System wie aus?
- Weniger Krankenkassen, aber welche und wie viele bleiben?
- Eine Bürgerversicherung einrichten, also auch Privatversicherte inkludieren? Dann fällt die jetzige Querfinanzierung durch die Privatpatient:innen weg. Lässt sich das überhaupt auffangen? Und die Frage ist außerdem, ob es nicht ein Weg in die so gefürchtete Zwei-Klassen-Medizin ist? Denn dann gibt es die „Selbstzahler“, die sich jede Therapie leisten können, auch außerhalb des Leistungskatalogs der Bürgerversicherung.
- Oder lassen wir es so wie es ist und zahlen alle mehr, allerdings ohne für pseudomedizische Anwendungen aufzukommen, weder in der GKV noch in der PKV? Bei Autos, Smartphones, Fast Fashion, Weihnachtsgeschenken etc. sind wir ja auch sehr großzügig. Allerdings: Durch die aktuell gestiegenen Energiekosten ist eine höhere Belastung für die eigene Gesundheit sicherlich schwer zu vermitteln.
Welche Zöpfe gehören noch ab? Was müssen wir noch diskutieren?
Lesen Sie auch folgende Blogbeiträge:
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Titelbild: Bild von Michael Schwarzenberger auf Pixabay