Kennen Sie den Spruch: Die Arbeit könnte so schön sein, wenn die Kund:innen nicht wären? Auf Ärzt:innen übertragen bedeutet es, dass die ärztliche Tätigkeit so wunderbar sein könnte, wenn die Patient:innen nicht wären. Und viele Ärzt:innen werden genau das denken, wenn sie von einem nervigen Arbeitstag nach Hause kommen. Nur trauen sie es sich nicht zu sagen.
Es traut sich sowieso keiner so etwas zu sagen, denn wir sind alle Patient:innen. Im Alltag können wir argumentieren, diskutieren und Dinge mehr oder weniger objektiv bewerten, auch was Krankheiten angeht. Sind wir aber in einer Krankensituation, geht es also um uns, unsere Eltern, Kinder oder Partner:innen mutieren wir zu den emotionalen nervigen und das Gesundheitssystem ausnutzenden Individuen, die wir eigentlich gar nicht sein wollen. Geht automatisch, können wir gar nichts für. Ist nachvollziehbar und normal.
Aber genau wir sind es auch, die unser eigenes Gesundheitssystem stressen und ausbeuten. Wir sind das, die sich nicht eingestehen, doch eher „eine Schraube locker zu haben“, aber das 3te MRT wünschen, um etwas zu suchen, was es nicht gibt. Wir sind das, die Diagnostik um Diagnostik fordern und die grundsätzlich nicht ohne ein Rezept den Arzt verlassen*, obwohl wir das Arzneimittel dann gar nicht einnehmen (hat ja viel zu viele Nebenwirkungen!).
Wir Patient:innen können was dafür
Wir Patient:innen plädieren auf „nicht schuldig“. Denn die Pharma verlangt einfach zu viel Geld, deshalb reichen die Krankenkassenbeiträge nicht. Und die Ärzt:innen, oh je, die fahren womöglich Porsche. Dass ich vielleicht selbst einen Porsche-SUV fahre, spielt keine Rolle, ich habe es ja verdient, aber Ärzt:innen werden von meinen Krankenkassenbeiträgen überbezahlt und reich. Unmöglich!
Jetzt mal ehrlich: Haben Sie sich schon solche Fragen gestellt am Stammtisch? Sicherlich nicht. Sie haben die Klischees am Stammtisch gefestigt: Pharma, Ärzt:innen und Apoteker:innen sind Schuld, dass das Geld in den Töpfen der Krankenkassen nicht reicht.
So auch der Tenor der Politik. Sie arbeitet ja für uns. Sie hat uns Patient:innen im Blick. Wir sind neben unserer Aufgabe als Patient:innen auch noch Wähler:innen und, na klar, Steuerzahler:innen. Also muss man sich um uns kümmern. Und danke, genau das tut man. Uns trifft keine Schuld an der Misere, auch wenn wir natürlich höhere Beiträge zahlen müssen. Kann die Politik und wir natürlich nichts für, schuld sind die Bösen (s. o.).
Die Krankenkassen können was dafür
Wir leben in einer sozialen Marktwirtschaft. Daher denkt die Politik, dass es sinnvoll ist, wenn es Wettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen gibt und nicht eine Einheitskasse. Mag sinnvoll anmuten, ist es aber nicht, wie folgendes Beispiel zeigt:
Krankenkassen, die viele chronisch erkrankte Kund:innen hatten, bekamen aus einem Fonds Gelder, um die Kosten auszugleichen. Die Folgen kennen wir: Upcoding (https://pharma-net-blog.de/upcoding-neues-geschaeftsmodell-der-krankenkassen/) Es ging also nicht um Patient:innen, sondern darum, dass die Krankenkassen mehr Geld bekommen. Deshalb trat am 1. April 2020 das Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FKG) in Kraft.
„Mit dem Gesetz wurde der RSA** mit dem Ziel gleicher Wettbewerbsbedingungen und der Stärkung der Manipulationsresistenz sowie der Präventionsorientierung weiterentwickelt werden.“ (Quelle: Bundesgesundheitsministerium)
Um Kund:innen zu werben, zahlen die gesetzlichen Krankenkassen lieber unsinnige und fragwürdige Anwendungen, von Homöopathie über Akupunktur bis hin zu Sportkursen. Jetzt mal ehrlich, jeder kann sich einen Sportkurs in einem Sportverein oder bei der Volkshochschule leisten, da muss man keine Kurse in Fitnessstudios bezahlt bekommen. Das ist mehr als fragwürdig.
Herr Spahn bezeichnete diese Kosten für Homöopathie und Akupunktur als „peanuts“ im Vergleich zu den horrenden sonstigen Ausgaben. Richtig, ist aber kein Grund sie beizubehalten, Kleinvieh macht auch Mist.
Die privaten Krankenkassen sind noch schlimmer. Man bekommt gar keine „guten“ Tarife (außer den Basistarifen) ohne Heilpraktiker. Für ein paar Esotheriker müssen also alle Privatpatient:innen höhere Tarife zahlen.
Marktwirtschaft im Gesundheitswesen
Die Frage ist: Benötigt man wirklich noch immerhin 97 Krankenkassen mit allen ihren Strukturkosten? Was ist denn wirklich marktwirtschaftlich organisiert in unserem Gesundheitswesen? Ein Blick auf die Teilnehmer verrät es:
- Genau, die pharmazeutische Industrie. Eigentlich, aber sie werden von Rabattverträgen, Festbeträgen, Großhändlern und dem IQWIG geplagt. Die vielen Rohrkrepierern in der eigenen Forschung sind jedoch deren Sache, also volles Marktrisiko dafür, freie Preise nur kurzfristig für Innovationen.
- Noch wirklich marktwirtschaftlich kann die Medizintechnikbranche agieren, sie hat keiner so richtig auf dem Schirm.
- Ärztliche Praxen tragen für sich selbst das volle Risiko, das ist in der Tat marktwirtschaftlich, aber sie sind budgetiert, können also nicht frei ihre Einkünfte gestalten, zumindest wenn sie Kassenpatient:innen versorgen. (Durch Regresse wird ihr Einkommen zusätzlich geschmälert.) Und bei Privatpatient:innen müssen sie sich an die GOÄ halten. Das ist alles andere als marktwirtschaftlich. Damit sich Praxen rechnen, benötigen sie einen hohen Durchlauf. Es ist bekannt, dass darunter die Redezeit schwindet. Deshalb hat der ehemalige Gesundheitsminister Spahn eingeführt, dass es für Neupatient:innen mehr Geld gibt. Das war gut so, denn Neupatient:innen kosten Zeit, es muss eine gründliche Anamnese und Untersuchung durchgeführt werden. Das hat nun der neue Gesundheitsminister Lauterbach abgeschafft.
- Apotheken rechnen sich – dank Retaxierungen – fast nur noch über frei verkäufliche Randprodukte, wie größtenteils umstrittene und überflüssige Nahrungsergänzungen (z. B. Ergänzende bilanzierte Diäten), Kosmetika oder Zahnpflege.
- Privatisiert wurden viele Krankenhäuser. Mit Erfolg? Unklar. Es scheint eher nicht so, aber das ist ein extra Blog-Thema wert.
Ergo: Der freie Markt existiert im Gesundheitswesen de facto nicht – sollen wir es dann nicht ganz lassen? Wozu also noch weitere 96 Krankenkassen?
Wie bekommen wir uns in den Griff?
Man sieht ja hin und wieder Umfragen, wie wir Patient:innen die Gesundheitsversorgung beurteilen. Seit der Pandemie auf jeden Fall schlechter als vorher: https://www.pwc.de/de/gesundheitswesen-und-pharma/healthcare-barometer.html
Beurteilen uns Ärzt:innen ebenso schlecht wie wir umgekehrt? Wieviel Prozent von uns Patient:innen sind eigentlich erträglich? Und wieviel Prozent von uns sind die totalen Nervensägen? Wahrscheinlich sind wir das nicht bei jedem/r Ärzt:in, wahrscheinlich am ehesten bei den hausärztlich tätigen Mediziner:innen. Denn während man früher den Pfarrer/Pastor (heute auch Pastorin) aufsuchte, um Lebensprobleme zu diskutieren, müssen heutzutage die Hausärzt:innen das nebenbei erledigen ohne dafür bezahlt zu werden und – by the way – ausgebildet zu sein. Es sind Mediziner:innen, sie möchten gerne Krankheiten heilen, also körperliche, weder Einbildungen noch psychische Probleme.
Können wir uns nicht auch einmal selbst hinterfragen, nehmen wir zu viel Gesundheitsleistungen in Anspruch? Können wir nicht doch wieder eine/n Pfarrer:in aufsuchen? Oder vielleicht eine Selbsthilfegruppe? Sind wir nicht in der Lage, für unsere Gesundheit selbst zu sorgen?
Ist das System der Privatversicherungen ein Vorbild?
Blenden wir mal den Quatsch mit der Bezahlung von Heilpraktikerleistungen bei den privaten Krankenkassen aus, dann gibt es doch einige Punkte, die als Vorbild auch für die GKV dienen können, z. B. die Rückzahlung von Beiträgen, wenn man keine Leistungen in Anspruch genommen hat – außer den Gutscheinen für Vorsorgen – oder die Selbstbehalte, wodurch man den eigenen Beitrag senken kann.
Bei einigen gesetzlichen Kassen existiert so etwas bei den sog. Wahltarifen schon, aber nicht genauso und das ist auch mit Vorsicht zu genießen: https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/gesundheit-pflege/krankenversicherung/kostenerstattung-in-der-gesetzlichen-krankenkasse-kaum-echter-nutzen-55331
Ob es in die Richtung weiter geht, oder ob doch irgendwann der harte Schnitt Richtung „Bürgerversicherung“ kommt, bleibt abzuwarten. Beides ist wahrscheinlich von der Ampel-Koalition nicht zu erwarten.
Fazit
Bei allen Diskussionen im Gesundheitswesen werden Patient:innen allgemein als „Opfer“, nie als „Täter“ dargestellt. So stimmt es aber nicht, wie die Beispiele zeigen. Wir Patient:innen mit unserer Anspruchshaltung sollten unser Verhalten hinterfragen und nicht alle Schuld den anderen Beteiligten im Gesundheitswesen geben.
Etwas Demut, in einem relativ guten Gesundheitssystem zu leben, stände uns gut zu Gesicht. Wo Menschen arbeiten, werden Fehler gemacht, keiner davon ist frei. Und es ist nicht immer alles top organisiert, kann vorkommen. Es mag in dem einen oder anderen Staat an dem einen oder anderen Punkt besser laufen, aber in ganz vielen Ländern läuft es deutlich schlechter. Also können wir auf jeden Fall dankbar sein. Und unsere Gesundheit sollte uns mehr Geld wert sein als ein Smartphone oder eine Maschine namens Auto.
*Beispiel Antibiotikum: Glücklicherweise geht der Einsatz von Antibiotika bei Husten, Schnupfen, Heiserkeit zurück. Die Aufklärung zeigt Wirkung. Bekannt sind noch Zeiten, in denen Patienten nur unter Protest die Arztpraxis verlassen haben, wenn sie kein Rezept mit Antibiotikum bekommen haben. „Ich bin ja so krank, ich habe sogar ein Antibiotikum bekommen“, hieß es bei den Arbeitskollegen. Ein gelber Schein über mindestens eine Woche war dann auch dabei und der eigentlich Grund für den Arztbesuch. Der Arzt konnte vorher lange erklären, dass ein Antibiotikum Unsinn ist, der Patient schaute glasig und zwar nicht vom Fieber.
**RSA = Risikostrukturausgleich
Links
https://www.gesundheitsreform.jetzt/
https://www.boeckler.de/pdf/p_fofoe_WP_196_2020.pdf
https://www.quarks.de/gesundheit/medizin/zwischen-profit-und-patientenwohl/
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Titelbild: © KT Projekt