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DIE AUTOREN

Karen Thiel
Seit mehr als 20 Jahren bin ich als selbständige Pharma-Expertin für die Bereiche Medical-Marketing und Patient Support tätig. Ich betreue Biopharma, RX, OTC/OTX, Supplements und apothekenexklusive Kosmetik-Marken als Managerin oder Consultant. Ein besonderes Spezialgebiet von mir ist der Aufbau von Patienten-Support-Programmen. Auch Online/Social-Media-Aktivitäten im Healthcare-Bereich zählen zu meinen Kernkompetenzen. Meine Firma heißt KT Projekt. Mein Angebot sowie eine Referenz- und Projektliste finden Sie unter www.ktprojekt.de.
Dr. Martina Hänsel
In der Pharmabranche arbeite ich seit mehr als 20 Jahren und bin seit über acht Jahren freiberufliche Beraterin mit Schwerpunkt auf medizinisch-wissenschaftliche Beratung, Kommunikation und Interim Management. Außerdem absolviere ich einen Master-Studiengang Regulatory Affairs.

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„Dagegen sein!“ – die Kommunikation parolenschwingender Minderheiten

Die Autorin fragt sich oft, warum viele sinnvolle Strategien und Sachverhalte – wie z. B. der seit 2004 geltende FSA-Kodex der forschenden Pharmaunternehmen oder die Initiative EUPATI – kommunikationsmäßig unter dem Aufmerksamkeitsradar bleiben, während andererseits Falschbehauptungen weite Kreise ziehen und immer wieder Skeptiker und Suchende an sie glauben machen (Stichwort Impfgegner). Ein zufällig gelesener Artikel in der „GEO“ öffnete ihr die Augen.

Siehe u.a. auch die Beiträge in diesem Blog:

Die Corona-Krise bringt neben leidvollen Erfahrungen auch die Gelegenheit, nach Herzenslust in Bibliotheksexemplaren älterer Zeitschriften zu stöbern, ohne sich um Rückgabefristen kümmern zu müssen – denn die sind wegen der Schließung der Stadtbibliotheken gerade außerordentlich weit gefasst.

Unter anderem fand sich in der Ausgabe der „GEO“ vom März 2019 (zugegebenermaßen nicht gerade brandaktuell, aber auch noch nicht völlig veraltet) der hochinteressante Artikel „Impfen! Oder etwa nicht?“ (Text: Vivian Pasquet). Hier wird exzellent über den heillosen und ausufernden Streit zwischen Impfbefürwortern und -gegnern berichtet und am Ende, nach penibler Prüfung der Argumente beider Seiten, ein klares und differenziertes Urteil gefällt. Eigentlich kann man zu diesem Thema in absehbarer Zeit ausschließlich auf diesen Artikel verweisen. Doch das soll nicht das Thema sein.

Kommunikation unter der Lupe

Hochinteressant war ein Exkurs über die Kommunikation von Impfgegnern. Denn nach einer umfangreichen Recherche und einer detaillierten Vorstellung u.a. der beeindruckend tiefschürfenden Arbeit der STIKO (Ständige Impfkommission bei Robert-Koch-Institut, RKI) vor dem Zustandekommen einer Impfempfehlung stellt sich bei Vivian Pasquet die Frage:

„Wie machen das die Impfgegner: dass Suchende … ihnen mehr Glauben schenken als den Empfehlungen der STIKO?“

Anhand von Gesprächen mit der Psychologie-Professorin Cornelia Betsch wurden verschiedene Strategien vorgestellt:

1. „Cherry Picking“

Unter den Massen an wissenschaftlichen Veröffentlichungen picken sich die Impfgegner nur diejenigen heraus, die ihre Behauptungen unterstützen und ignorieren eine differenzierte Gesamtschau der wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Gegenreden oder widersprechende Arbeiten werden unterschlagen.

Im Gegensatz dazu wird am RKI vor einer Abstimmungssitzung, ob eine bestimmte Impfung von der STIKO empfohlen wird oder nicht, von zwei Wissenschaftlern über vier Monate Literaturrecherche betrieben – als Bruchteil der vorbereitenden Arbeit.

Im Jahr 1998 behauptete der britische Arzt Andrew Wakefield, dass die Dreifachimpfung gegen Masern, Mumps und Röteln Autismus verursachen würde. Diese Studie war falsch und wurde wegen des Nachweises von unethischen Untersuchungsmethoden und mangelnder Offenlegung von finanzieller Abhängigkeit Wakefields in 2010 von der angesehenen Zeitschrift „Lancet“ zurückgezogen. Nichtsdestotrotz berufen sich Impfgegner noch immer darauf, und Journalisten haben die Nachricht in der ganzen Welt verbreitet.

Stellen sich da nicht Parallelen zur derzeitigen Diskussion rund um Corona ein? Freunde sendeten mir den Link zu einem Video von Herrn Dr. Schiffmann von der Schwindelambulanz Sinsheim (30.03.2020) zu, mit der Bitte um Einschätzung.

Neben einer unglaublichen Behauptung zum Thema Euthanasie (die hier nicht Gegenstand der Betrachtung sein soll) zitiert Herr Dr. Schiffmann eine Arbeit (strenggenommen eines Editorials) aus dem „New England Journal of Medicine“ und liefert auch gleich die Übersetzung einer bestimmten Passage: „ … Dies deutet darauf hin, dass die klinischen Gesamtfolgen von Covid-19 letztlich eher denen einer schweren saisonalen Grippe (mit einer Falltodesrate von etwa 0,1%) oder einer pandemischen Grippe (ähnlich denen von 1957 und 1968) ähneln als einer Krankheit wie SARS oder MERS…“.

Diese diskutierte Ähnlichkeit von Covid-19 mit einer „normalen“ Grippe ist das Kernstück einer Argumentation, die die derzeitigen weltweiten und flächendeckenden Lockdown-Maßnahmen als unangemessene Panikmache darstellt. Interessanterweise ist im gleichen Editorial nur einige Dutzend Zeiten unter dem zitierten Satz auch die folgende Überlegung enthalten: „Angesichts der Effizienz der Übertragung, wie sie im aktuellen Bericht angegeben wird, sollten wir jedoch darauf vorbereitet sein, dass Covid-19 weltweit, auch in den Vereinigten Staaten, Fuß fassen wird. Die Ausbreitung in den Vereinigten Staaten könnte eine Verlagerung von der Eindämmung auf Eindämmungsstrategien wie z.B. soziale Distanzierung erfordern, um die Übertragung zu reduzieren. Solche Strategien könnten die Isolierung kranker Menschen (einschließlich freiwilliger Isolation zu Hause), die Schließung von Schulen und, wo möglich, Telearbeit umfassen.“ … Von dieser Überlegung, nur wenige Zeilen von der zitierten Passage entfernt, wird im Video nichts erwähnt. „Cherry picking“ oder auf deutsch „Rosinenpickerei“ und keine wissenschaftliche Diskussion.

2. „Omission bias“ – der Unterlassungseffekt

„Wenn etwas Schlimmes (etwa eine Krankheit) als Folge einer eigenen Handlung (etwa einer Impfung) eintritt, bewerten wir das als schlimmer, als wenn dasselbe Ereignis ohne eigenes Zutun auftritt.“,

so Cornelia Betsch.

Dadurch kann die Angst, dass eine Impfung schadet (eigene Handlung), überwältigender sein als die Angst vor einer schweren Erkrankung, die ohne Impfung eintreten kann (Ereignis ohne eigenes Zutun). Also lassen Skeptiker besser das Impfen sein, denn dann entsteht das Gefühl „selbst schuld“ zu sein. (Aus den Zahlen der Paul-Ehrlich-Institutes, der für die Sicherheit von Impfstoffen zuständigen Bundesoberbehörde: 0,0001% aller Impfdosen zogen 2008 einen Impfschaden nach sich.).

3. „False Balance“ – die falsche Gewichtung

In den Augen der Autorin das interessanteste Phänomen. In einer Talkshow (zusammengesetzt wie es im Blog-Beitrag Wie werden Polit-Talkshows geplant? persifliert wird) gibt es die Person Pro und die Person Contra, die ihre Argumente austauschen. Der Zuschauer, der im besten Fall etwas lernen und sich eine Meinung bilden will, gewinnt daher den Eindruck, zwei gleichwertige Standpunkte vor sich zu haben.

Cornelia Betsch (im GEO-Artikel) zitiert dazu das Beispiel Klimawandel: Ein Klimaforscher diskutiert mit einem Leugner. Bevor der Schlagabtausch beginnt, bittet der Moderator Wissenschaftler dazu, die jeweils eine der Meinungen vertreten. Es soll das Verhältnis widergespiegelt werden, in dem sich beide Parteien auch abseits der Kamera gegenüberstehen. Das Ergebnis:

„Neben den Klimawandel-Leugner stellen sich zwei weitere Menschen. Neben den Wissenschaftler 96. ‚Das‘, sagt Cornelia Betsch ‚wäre eine faire Diskussion, weil es die Realität richtig widergibt.‘“

So müssten beispielsweise bei Polit-Talkshows also bestimmten Parteien, die möglicherweise viel zu viel mediale Aufmerksamkeit bekommen, mindestens vier bis fünf Gegenargumentatoren in der Runde gegenüber sitzen.

4. Menschliche Schicksale lenken von Zahlen ab

GEO zitiert eine Studie der Universität Erfurt: Nach der Information über nackte mathematische Wahrscheinlichkeiten von Nebenwirkungen (eines fiktiven medizinischen Eingriffs) lesen die Teilnehmer in einem Forum über bewegende Einzelschicksale mit schweren Nebenwirkungen. Nach dieser Lektüre wurde die Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen als viel zu hoch eingeschätzt, obwohl die Probanden es durch die Information vorab hätten besser wissen müssen. Nach Ansicht der Wissenschaftler liegt es im Wesen der menschlichen Psyche: Menschen und konkrete Schicksale schlagen in der Berichterstattung Statistik. Wer hätte das nicht bei sich selbst bereits beobachtet.

Berichte über die Pharmakovigilanz-Aktivitäten am Paul-Ehrlich-Institut bleiben nicht so im Gedächtnis wie tragische Einzelfälle (wohlgemerkt, im unteren Promillebereich aller Impfungen).

5. Behauptungen sind leichter zu treffen als zu widerlegen

Eigentlich klar, aber ein eigenes verblüffendes Learning durch eine Übung während einer Fortbildungsveranstaltung (Klaus-Peter Hufer: „Argumente gegen Stammtischparolen“, AWO Bildungswerk Köln, 19.09.2019):

Parolen und Behauptungen sind allumfassend, einprägsam, auf den Punkt gebracht und nicht differenziert!

Beispiele: „Die STIKO hat vor allem das Wohl der Pharmaunternehmen im Blick.“, „Die Pharmafirmen machen ihre Medikamente ja viel zu teuer und bestechen die Ärzte, damit sie verschrieben werden.“ „Nebenwirkungen werden vertuscht.“, „Die aktuellen Maßnahmen in der Coronakrise sind doch nur Panikmache.“.

Die Auseinandersetzung mit solchen Aussagen erfordert Fakten, (manchmal langweilige) Zahlen, Statistiken, Zusammenhänge, Recherche, Dokumentation.
Was davon ist wohl mühsamer und zeitintensiver? (Die Autorinnen dieses Blogs können mehrere Liederbücher davon singen.)

Fazit:

Auf jeden Fall ist es gut und nützlich, die beschriebenen Kommunikationsstrategien zu kennen und wiederzufinden.

Es ist wichtig, trotz des oben beschriebenen Ungleichgewichts bei der Argumentation, nicht aufzuhören, gute und sinnvolle Dinge (wie z.B. den FSA-Kodex, EUPATI und die immense Arbeit des Paul-Ehrlich-Institutes und der STIKO) zu benennen und bekannt zu machen.

 

Bildnachweis:

https://pixabay.com/de/k%C3%BCnstliche-intelligenz-gehirn-hirn-4389372/

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