Der Spiegel schafft es, mit nur einer unpassenden Überschrift und entsprechender Einleitung die altbekannten Verschwörungsmythen über die Covid-19-Impfreaktionen zu triggern und das Vertrauen in Impfungen weiter zu unterminieren. Dafür hat sich der Spiegel ganz redlich unseren „Sellerie-Award“ verdient. Konkret geht es um folgenden Artikel von Katherine Rydlink:
Unerklärliche Symptome nach der Coronaimpfung – und alle ducken sich weg.
Bekanntermaßen lesen die wenigsten Social-Media-Nutzer mehr als Überschriften und Intro. In dem Fall können sie es auch nicht, der Artikel ist nämlich hinter einer Paywall. In diesem Fall sollte auch der Spiegel überlegen, ob das Clickbaiting wirklich notwendig ist oder ob eine neutralere Headline nicht besser gewesen wäre. Im Artikel wird versucht, die Sache etwas differenziert darzustellen, was aber nur halbwegs gelingt. Es bleibt ein schaler Geschmack.
Der Aufbau des Artikels entspricht dem Gelernten aus einer der Journalistenschulen: Immer mit einem Einzelschicksal starten und dadurch eine emotionale Ebene aufbauen. Wie das nervt! Einzelschicksale können nicht für allgemeine Aussagen stehen, es wird aber immer wieder versucht. Dabei werden die Personen m. E. ausgenutzt. Es ist kein fairer Deal.
Die Aussagen der Beispielpatientin wurden übrigens nicht in Frage gestellt, könnte es sich um einen Nocebo-Effekt handeln? Gibt es wirklich einen Kausalzusammenhang? Somatisiert die Patientin?
Zur Erinnerung: Was ist der Nocebo-Effekt?
Wir haben bereits ausführlich über den Nocebo-Effekt berichtet. Wir zitieren uns hier selbst:
„Der Noceboeffekt ist das böse Geschwisterchen des Placeboeffektes.
‚Als Nocebo wird ein wirkstofffreies Scheinmedikament bezeichnet, das beim Patienten unerwünschte Nebenwirkungen hervorruft. Ärzte sprechen hierbei vom Noceboeffekt, der sozusagen wie ein umgekehrter Placeboeffekt funktioniert.‘ (Quelle: netdoktor)
Den Noceboeffekt sehen Analysten bei ihrer Auswertung von klinischen Studien. Der Placeboarm berichtet über Nebenwirkungen, die eigentlich nur im Verumarm der Studie auftreten können. Die Teilnehmer beider Studienarme erhielten im Vorfeld eine Aufklärung über mögliche Nebenwirkungen. Deshalb stellen sich auch bei den Menschen, die nur das Scheinmedikament bekommen haben, Nebenwirkungen ein.
Oder als anderes Beispiel: Wer einen Beipackzettel und die dort angegebenen Nebenwirkungen liest, entwickelt möglicherweise genau die Nebenwirkungen, die aufgeführt sind. Es ist die negative Erwartungshaltung: Ich bekomme das bestimmt.“
Was ist ein Kausalzusammenhang?
In dem Spiegel-Artikel wird suggeriert, dass die gesundheitlichen Mißstände der aufgeführten Patientin unmittelbar mit der Impfung zusammenhängen. Das ist ganz häufig ein Fehlschluss von Patient:innen. Es gibt oft keinen zwingenden Kausalzusammenhang zwischen der Einnahme eines Medikamentes bzw. einer Impfung und einer zeitnah aufgetretenen Erkrankung. Das kann zufällig zusammenfallen. Nur wenn es bei vielen Menschen sehr häufig auftritt, dann muss untersucht werden, ob es sich um eine Folge der Einnahme handeln kann. Und genau das wird auch gemacht.
In dem Artikel wird es sogar von dem Arzt Christian Bogdan so kommuniziert. Frau Rydlink zitiert ihn:
»Bislang sind mir keine wissenschaftlichen Erhebungen bekannt, dass nach einer Covid-Impfung gehäuft immunologische Langzeitnebenwirkungen auftreten«, sagt er. »Grundsätzlich kann jede Impfung, auch die Impfung gegen Covid-19, unerwünschte Immunantworten entweder auslösen oder verstärken. Dieses Risiko ist jedoch sehr gering im Vergleich zu möglichen unerwünschten Immunreaktionen nach einer Sars-CoV-2-Infektion, wo der Körper mit viel höheren Antigenmengen konfrontiert wird«. Doch der reine Verdacht helfe nicht weiter, man könne aus der prinzipiellen Möglichkeit nicht einfach eine Kausalität ableiten. »Wir haben zum Höhepunkt der Impfkampagne in Deutschland rund 1,5 Millionen Menschen täglich geimpft. Wenn man bedenkt, wie viele Menschen täglich eine Krankheit oder zunächst unerklärliche Symptome entwickeln, ist es sehr wahrscheinlich, dass bei vielen der Betroffenen auch ohne die Impfung die Beschwerden aufgetreten wären«, so Bogdan. »Da die Menschen im Rahmen der Impfkampagne gegen Corona geimpft wurden, gehen jedoch manche automatisch davon aus, dass ihre Beschwerden ursächlich mit der Impfung zusammenhängen. Hier muss man unbedingt aufklären und andere, wahrscheinlichere Ursachen zwingend ausschließen.«
Leider spielt die Aussage aber nicht die Hauptrolle in dem Artikel, sie wird direkt wieder relativiert, nämlich damit, dass ja nicht alle „Nebenwirkungen“ gemeldet werden. Richtig, warum auch? Die meisten Nebenwirkungen sind Schmerzen an der Einstichstelle, ein bis zwei Tage grippeähnliche Symptome und ähnliches. So wie im Beipackzettel beschrieben. Das muss tatsächlich nicht x-mal gemeldet werden, es ist bekannt.
Aber dass schwerwiegende Nebenwirkungen nicht gemeldet würden, weil es Ärzten/Ärztinnen „zu heiß“ wäre, wie der Kardiologe Herr Schieffer meint, ist eine Unterstellung und eine Unverschämtheit gegenüber den Mediziner:innen an der Front! Herr Schieffer: Was unterstellen Sie Ihren Kollegen? Lesen Sie: Impf-Burnout in den Arztpraxen
Trotzdem danke, dass Sie die Post-Vac-Fälle untersuchen und hoffentlich wissen wir danach mehr.
Zur Erinnerung: Wie klassifiziert man Nebenwirkungen?
Zitat aus einem unserer Blogartikel: „Nebenwirkungen werden u. a. anhand ihrer Häufigkeit und darauf aufbauenend anhand ihrer Wahrscheinlichkeit klassifiziert:
Häufigkeit: Wahrscheinlichkeit:
sehr selten weniger als 0,01 %
selten zwischen 0,01 % und 0,1 %
gelegentlich zwischen 0,1 % und 1 %
häufig zwischen 1 % und 10 %
sehr häufig größer als 10 %
Wie der Tabelle entnommen werden kann, treten NW unterschiedlich häufig auf. Sehr häufige, häufige und gelegentliche NW werden in den klinischen Prüfungen an Zehntausenden von Probanden sicher erkannt, denn sie treten dort hunderte oder tausende Male auf. Seltene und sehr seltene NW dagegen werden nicht erkannt, weil 0,01% eben bedeutet, dass die unerwünschte Wirkung unter 10 000 Geimpften gerade einmal auftritt. Wird ein solcher Impfstoff dann aber an mehreren Milliarden Menschen eingesetzt, wird auch diese seltene NW mehrere Tausend Mal auftreten.“
Grundsätzlich ist es denkbar, dass die Folgen, die von der eigentlichen Erkrankung ausgehen, gegen die man impft, abgeschwächt auch nach einer Impfung auftreten können. Das ist auch bei der Covid-19-Impfung festgestellt worden, seien es die Sinusvenenthrombosen, das Guillain-Barré-Syndrom oder Herzprobleme. Alle Erkrankungen traten bei Covid-19-Erkrankten häufiger auf, bei geimpften Personen allerdings nur sehr selten und waren bei rechtzeitigem Erkennen behandelbar.
Das Post-Vac-Syndrom
So versuchen sich einige Mediziner:innen auch den Fall des Post-Vac-Syndroms zu erklären, das analog des Long-Covid-Phänomens auftritt. Die Beschwerden sollen ähnlich gelagert sein.
„Das Phänomen (Post-Vac-Syndrom – Anmerk. der Verf.) ist noch wenig erforscht. Eine spezifische medizinische Definition, ein sogenannter MedDRA-Term (Medical Dictionary for Regulatory Activities), zur einheitlichen Klassifizierung und Registrierung der unerwünschten Nebenwirkungen gibt es (noch) nicht. Auch die Ursache für die Entstehung des Erkrankungsbildes Post-Vac-Syndrom ist bisher nicht bekannt. Für verlässliche Erkenntnisse sind weitere Untersuchungen bzw. Studien erforderlich.“ (Quelle: infektionsschutz.de)
Natürlich muss man die Post-Vac-Symptome untersuchen und ernst nehmen. Deshalb gibt es auch schon einen ICD-Code U12.9 und verschiedene Anlaufstellen in Deutschland wo sich Betroffene melden können, z. B. in Marburg: https://www.ukgm.de/ugm_2/deu/umr_pne/50601.html.
Auffällig ist, dass – wie bei dem Wikipedia-Beitrag nachzulesen – die meisten Meldungen von Patient:innen aus Deutschland stammen, die diese sogar selbst gemeldet haben. In anderen europäischen Ländern wurde mehr geimpft und wird weniger über das Post-Vac-Syndrom geklagt. Kann es also auch ein deutsches Phänomen sein, so in Richtung „German Angst“? Das werden die Studien und Untersuchungen zukünftig klären, ist auch gar nicht Gegenstand des Awards, sondern nur eine Randnotiz.
Die Beispielpatientin im Spiegel-Artikel ist mit der Colitis ulcerosa-Erkrankung eine Covid-19-Hochrisikopatientin, d. h. sie hätte einen schweren Verlauf haben können. Gut, dass sie geimpft ist! Und ja, sie sollte sich auch gegen Omikron diesen Herbst impfen lassen.
Zur Erinnerung: Wie gefährlich ist Clickbaiting?
Über Clickbaiting und die Folgen – gerade im medizinischen Bereich – haben wir schon berichtet, deshalb zitieren wir uns noch einmal selbst:
„Reißerische Überschriften, z. B. über Impfreakionen oder Nebenwirkungen von Covid-19-Impfstoffen, können zu Verunsicherungen bei Impfzweiflern führen. Angsteinflößende Headlines, beispielsweise über die Pandemie oder zum Klimawandel, wühlen Menschen auf statt zu informieren. Stimmungsmache statt Information.“
Weiterer Spiegel-Artikel untermauert den Award
Auf Facebook wirbt Der Spiegel sehr gerne mit einem Artikel aus 2020, warum, bleibt ein Rätsel, denn der Artikel hat keine Substanz. Es geht um Statine, die angeblich krank machen. Dafür wird ein französischer Kardiologe bemüht, der sich gegen den Einsatz von Statinen (Cholesterinsenkern) ausspricht. Das kann er natürlich, es ist seine persönlich Meinung und ggf. seine persönliche Erfahrung. Aber: Es entspricht nicht den Leitlinien und ist somit nicht allgemeinem Konsens.
„Es ist verantwortungslos von Statinen generell abzuraten. Hochrisikopatient:innen werden dadurch verunsichert. Lipidsenkung in die von Fachgesellschaften empfohlenen Zielbereiche (s. ESC/EAS 9/2019) ist unbedingt zu empfehlen. Bei Statinunverträglichkeit gibt es mittlerweile sehr gute, auch gute verträgliche medikamentösen Alternativen, meist reicht nämlich eine alleinige Ernährungsumstellung NICHT aus. Zuweisung in Lipidambulanzen sind immer sinnvoll und zielführend.
Die Meinung EINES Mediziners, den europäischen Fachgesellschaften gegenüberzustellen, erinnert mich an Corona – wo Meinungen einzelner Coronaleugnender- und impfgegnerischer Ärzte der Meinung der Fachgesellschaften und der überwiegenden Mehrheit der Wissenschaftler gegenübergstellt wurden …“ (Quelle: Anonymer Kommentar auf Facebook unter dem Spiegel-Post)
Das Interview ist ebenfalls hinter einer Paywall, also Clickbaiting für Profit. In der guten alten Tradition des Pharmabashings und der Patient:innenverunsicherung bleibt sich Der Spiegel einfach treu.
Sellerie-Award
Somit steht dem Award nichts mehr im Wege. Es ist schon der dritte Sellerie-Award, den www.pharma-net-blog.de vergibt. Er ist mit keinem Preisgeld verbunden, wir wollen ja Journalisten nicht korrumpieren. Daher auf diesem Weg: herzlichen Glückwunsch! Man kann nie genug Awards haben!
Weitere Sellerie-Awards:
Das ARD-Politmagazin Monitor hat sich den Sellerie-Award redlich verdient
Der Sellerie-Award geht an arte!
Warum Sellerie? Für die Autorin gibt es kein widerlicheres Lebensmittel, daher passt es perfekt als Symbol. (Der Preis ist angelehnt an die Auszeichnungen: Goldener Windbeutel, Goldene Himbeere und Saure Gurke. Allerdings alles sehr leckere Lebensmittel, wie kann man diese für Negativpreise nehmen? Da passt Sellerie auf jeden Fall besser.)
Lesen Sie auch weitere Blogbeiträge zum Thema:
Sensationsjournalismus und die Folgen
Lesenswert: „Pandemien“ von Philipp Kohlhöfer
Impfstoffe und Langzeitdaten – ein Blogbeitrag von Verdareno
Die Erfolgsbilanz der modernen Pharmazie
Impfdurchbrüche – kein Grund zur Sorge
Fake-News zu Covid-19-Impfungen – Wir klären auf!
Wie Impfstoffe gegen Covid-19 erprobt werden
Der Spiegel war Vorreiter. Nun sind zum Post-Vac-Syndrom noch weitere Artikel erschienen, z. B. in der Rheinischen Post mit dem Titel „Wenn die Impfung krank macht“ (18.10.2022). Der Artikel ist deutlich weniger reißerisch als der im Spiegel, nutzt aber ebenfalls den gelernten Aufbau aus der Journalistenschule: emotionalisiere mit einem Einzelfall und dies gelte dann „pars pro toto“.