Der Streit zwischen der EU und AstraZeneca eskaliert gerade. Der Biontech-Gründer Ugur Sahin fragt sich, warum die EU so wenig Impfstoff eingekauft hat. Boris Johnson freut sich über den Brexit und genügend Impfstoff, da er auf die Bestellungen durch die EU nicht mehr angewiesen war. Was ist schief gelaufen bei der Impfstoffbestellung durch die EU? Oder ist überhaupt nichts schief gelaufen und wird es nur von den Medien aufgebauscht? Zumindest Pharma-Fakten sagt: „Einen Impf-Fehlstart gibt es nicht!„
Schauen wir uns die Vorwürfe an, die der EU gegenüber von der Presse formuliert werden.
1. EU bestellte zu spät die Impfstoffe
Die EU hat in der Tat deutlich später als viele andere Länder Impfstoff bestellt. Hier ein Ausschnitt:
- 20.07.2020 Großbritannien und BioNTech/Pfizer vereinbaren eine Lieferung von 30 Millionen Dosen COMIRNATY®
- 22.07.2020 Die USA bestellen 600 Millionen Dosen COMIRNATY®
- 31.07.2020 Japan bestellt 120 Millionen Dosen COMIRNATY®
- 14.08.2020 Großbritannien bestellt 60 Millionen Dosen Covid-19-Impfstoff-Kandidat von Novavax
- 17.08.2020 Die EU vereinbart mit AstraZeneca die Lieferung von bis zu 400 Millionen Dosen des COVID-19-Impfstoffs AZD1222
- 27.08.2020 Das AstraZeneca-Vaccin wird von der EU bestellt (Veröffentlichung des Vertrages am 29.01.2021)
- 09.09.2020 Verhandlung mit der EU über die Bestellung von 200 Millionen Dosen COMIRNATY® bei BioNTech/Pfizer
- 11.11.2020 Die EU bestellt die 200 Millionen Dosen
- 16.11.2020 EU kündigt an 405 Millionen Impfdosen von CureVac zu bestellen
- 02.12.2020 Zulassung von COMIRNATY® durch die EMA, die erste Zulassung überhaupt, in anderen Ländern gibt es nur Notfallzulassungen, die kamen aber deutlich früher
- 17.12.2020 Mit dem Hersteller Novavax verhandelt die EU über die Bestellung von 100 Millionen Dosen Impfstoff (d. h. es ist noch kein Vertrag geschlossen)
- 29.12.2020 Die EU ordert weitere 100 Millionen Dosen bei BioNTech/Pfizer Impfdosen von COMIRNATY® nach
Wie in der Auflistung zu sehen ist, hat die EU in der Tat sehr lange mit ihren Bestellungen gewartet. COMIRNATY® von BioNTech/Pfizer wurde sehr viel später von der EU bestellt als beispielsweise von den USA und Japan. Das gilt auch für den Novavax-Impfstoff, der gute Wirksamkeit zeigt.
Sowohl BioNTech/Pfizer als auch AstraZeneca können die EU nicht im Januar mit den Mengen an gewünschtem Impfstoff versorgen. BioNTech/Pfizer wollen mehr Impfstoff produzieren, was leichter gesagt als getan ist, und erweitern deshalb das Produktionswerk in Puurs/Belgien. Ein Grund dafür ist die Nachbestellung der EU. Vielleicht wäre das Werk bereits ausgebaut, wenn die EU entsprechende Mengen im Sommer 2020 bestellt hätte. BioNTech/Pfizer versprechen, dass die Impfstoffmenge im ersten Quartal gleich bleibt, sich die Lieferungen aber vom Januar in den Februar und März verschieben. Ob das einzuhalten ist, bleibt abzuwarten. Sanofi, die mit ihrem Impfstoff bis dato gescheitert sind, unterstützen BioNTech:
„Sanofi wird Fertigungsschritte der späten Phase übernehmen, um ab Sommer 2021 mehr als 125 Millionen Dosen des COVID-19-Impfstoffs für die Europäische Union zu liefern.“
Der Streit zwischen der EU und AstraZeneca ist über die verspäteten Lieferungen bereits eskaliert. AstraZeneca gibt zu bedenken, dass die EU 3 Monate später bestellt hat als Großbrittannien, d. h. Großbritannien muss Ende Mai/Anfang Juni bestellt haben, da der 27.08.2020 als Vertragsdatum gilt. (In den Pressemeldungen von AstraZeneca ist der Bestelltag Großbritanniens nicht zu finden.) Da muss man sich nicht wundern, wenn „first come, first serve“ eintritt.
Ergo: Der Vorwurf ist richtig!
2. Die EU hat geknausert
Ein weiterer Punkt scheint zu sein, dass die EU nicht bereit war die Preise zu zahlen, die u. a. Israel, Großbritannien und die USA zahlen wollten. Statt dankbar zu sein, dass die Impfstoffentwicklung so dermaßen schnell ging und europäische Firmen daran beteiligt waren, kramte die EU den Geizkragen hervor. Außerdem soll sie über die Produkthaftung sehr lange verhandelt haben. Ja, die Medien hätten über die möglichen hohen Preise einen Shit-Storm ergossen, aber er folgte trotzdem, nämlich über das Bestellgebahren der EU.
Apropos hohe Preise: AstraZeneca verdient mit dem Impfstoff momentan noch kein Geld. Pascal Soriot, der CEO von AstraZeneca, sagt:
„Wir entwickeln den Impfstoff gemeinnützig, wir verdienen damit kein Geld. Ich denke, wir behandeln Europa wirklich fair.“
Und es stimmt, wie ein Ausschnitt aus dem Vertrag zeigt:
In dem Ausschnitt ist weiterhin zu lesen, dass jedes EU-Land ein Bestellformular über die Liefermengen ausfüllen musste. Wie Daniel Cohn-Bendit in der Sendung von Maybrit Illner am 28.01.2021 in einem Nebensatz sagte, kamen diese Bestellformulare wohl teilweise verspätet zurück. Die juristische Einordnung werden die Anwälte klären.
AstraZeneca hat sich übrigens verpflichtet nach den „Best Reasonable Efforts“ zu liefern, so steht es in dem Vertrag. Was als beste Bemühungen gilt, ist auch Aufgabe einer juristischen Klärung. Es ist auf jeden Fall schwammig und nicht sehr verbindlich.
So oder so ist der Streit für den Schutz der älteren Generation gar nicht so wichtig. Der Impfstoff, den AstraZeneca anbietet, er wurde von der Universität Oxford entwickelt, scheint bei über 65jährigen nicht wirksam genug zu sein. Man sollte also bei der Altersgruppe bevorzugt mit den Impfstoffen der anderen Hersteller arbeiten. Vielleicht war es ein Sturm im Wasserglas, was die EU angezettelt hat.
Ergo: Dieser Punkt kann nicht abschließend beurteilt werden, da nur der AstraZeneca-Vertrag veröffentlicht wurde.
3. Die EU hat die falschen Hersteller bevorzugt
Zur Zeit der Bestellungen im Sommer konnte noch nicht abgesehen werden welcher Impfstoff als erstes gute Daten aus der Studie-3 liefert und zugelassen wird. Da die EU aber spät bestellt hat, konnte sie bereits abschätzen, dass BioNTech/Pfizer beim Rennen um den Impfstoff vorne liegen. Zurecht wunderte sich der BioNTech-Gründer Sahin darüber.
Einer der Gründe war sicherlich der Druck Frankreichs das französische Pharmaunternehmen Sanofi zu fördern, welches gemeinsam mit dem britischen Unternehmen GSK am Impfstoff arbeitete:
„Um kein Land zu bevorzugen oder zu benachteiligen, bestellte die EU Impfdosen von mehreren Unternehmen – im Falle von Sanofi mehr als 300 Millionen.“
Doch der Sanofi-Impfstoff wird sobald nicht kommen. Die Phase-3-Studiendaten waren ernüchternd, wie im Dezember 2020 der Presse mitgeteilt wurde: https://www.pharmazeutische-zeitung.de/probleme-beim-impfstoffkandidaten-von-sanofigsk-122469/ Dies allerdings konnte man zum Zeitpunkt der Bestellung natürlich nicht wissen.
Ergo: Es stimmt teilweise. Es war gut verschiedene Hersteller zu berücksichtigen, aber da der BioNTech/Pfizer-Impfstoff am weitesten in der Entwicklung war, hätte man direkt mehr von COMIRNATY® bestellen müssen.
Eine Fortsetzung folgt sicherlich. Covid-19, SARS-CoV-2 und die Impfungen werden uns auch 2021 weiter begleiten.
Links:
Die EU nimmt zu ihrer Imfpstoffbestellstrategie unter folgedem Link Stellung: https://ec.europa.eu/info/live-work-travel-eu/coronavirus-response/public-health/coronavirus-vaccines-strategy_de
https://biontech.de/de/covid-19
https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/coronavirus/ausweitung-liefermengen-covid-19-impfstoffe
Impfstoffe und Langzeitdaten – ein Blogbeitrag von Verdareno
Wie Impfstoffe gegen Covid-19 erprobt werden
Kann man sich bedenkenlos gegen Covid-19 impfen lassen?
Klasse Kommentar von Lobo auf Spiegel online. Daraus einige Zitate:
„Missgunst, verborgen unter vielen Schichten vermeintlicher Vernunft und Vorsicht, ist letztlich der Kern dieser deutschen und leider inzwischen europäischen Sparwut, die uns aktuell Leben kostet. Wenn ich bezahle, so die Essenz dieser Denkweise, dann soll niemand über die Maßen davon profitieren, sonst könnte ich mich womöglich betrogen fühlen. Man sagt Gerechtigkeit und meint Selbstgerechtigkeit.“
„Das Impfdebakel wird – eigentlich komplett absurd – von den gleichen Verantwortlichen entweder schöngeredet oder als »acht bis zehn harte Wochen« bezeichnet. Diese Verschiebung ist eine Folge des Gesundheitsgeizes. Auch hier gibt es konkrete Zahlen. Laut RKI wurden Mitte Januar bis 100.336 Personen am Tag geimpft. Ende Januar liegt dieser Wert zwischen 30.000 und 38.000. Weil nicht mehr Impfstoff da ist. Weil zu spät bestellt wurde. Weil man nicht so viel Geld ausgeben wollte. Weil man sonst womöglich als Verschwender dagestanden hätte.“
Die Aussagen unterstützen die Aussagen in unserem Blogbeitrag. Vielen Dank!
Hier der Link zum Spiegel-Artikel: https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/coronakrise-der-deutsche-geiz-ist-schuld-am-impfdebakel-kolumne-von-sascha-lobo-a-a79eace4-43d4-41a5-8d3a-de4f36846921
Lt. RP von heute (23.02.2021) hat Großbritannien zwei Tage nach der EU bestellt und hat ebenfalls die Klausel „best reasonable efforts“ im Vertrag. Deshalb konnte für den Blogartikel auch nicht das Bestelldatum Großbritanniens gefunden werden. Das wirft ein anderes Licht auf das Unternehmen. Wir recherchieren noch genaueres.
Nichtsdestotrotz sollte man sich natürlich auch mit dem AstraZeneca-Impfstoff impfen lassen, auch wenn einem BionTech sympathischer ist.
In der Rheinischen Post vom 3. Februar 2021 ist ein „Faktencheck zum Impfstart“, der inhaltlich das unterstreicht, was auch in unserem Blog beschrieben wird. Leider ist der Artikel nicht frei zugänglich. Hier deshalb ein paar Ausschnitte:
Thema Haftung: „Großbritannien hat die Pharmafirmen früh von der Haftung freigestellt – bei möglichen Impfschäden tritt der Staat ein.“ —> Impfschäden kommen bei heutigen Impfungen im Prinzip gar nicht mehr vor, es wäre also gar kein Risiko gewesen. Was sollte also diese Einstellung? Da waren m. E. Verhandler am Werk, die keine Ahnung von Pharmazie haben. Stattdessen sterben jetzt mehr Menschen an Covid-19, die bereits mittels Impfung hätten geschützt werden können.
Thema Geld: „Allerdings hätte im Sommer 2020 mehr Geld viel bewirken können. „Die EU hat zu spät und zu sehr auf den Preis achtend verhandelt“, sagt IW-Chef Hüther. Das habe den Mangel an früh verfügbarem Impfstoff verursacht, diese Verzögerungen seien nicht gleicht zu kompensieren.“ Covid-19-Tote und teurer Shutdown statt Geld für Impfstoffe. Ein ganz schlechter Deal.
Und als Ergänzung zu dem Blogartikel noch eine Stellungnahme zu der Forderung der Linkspartei „Zwangslizenzen“ einzuführen. Abgesehen von dem fehlenden Anreiz zu Innovationen sagt BioNTech-Chef Sahin: „Selbst große, erfahrene Unternehmen würden allein für den Aufbau der Abfüllung „mehrere Monate“ brauchen.“ Das ist richtig. Und Indien könnte zwar einen Vektorimpfstoff, wie der von AstraZeneca, herstellen, aber keinen mRNA-Impfstoff. Dafür fehlt noch das Know-How.
Auf der anderen Seite müssen wir uns nicht so aufregen. Letztes Jahr haben wir noch überhaupt nicht davon zu träumen gewagt, dass es so schnell einen Impfstoff geben wird. Und nun gibt es schon 3 regulär zugelassene Impfstoffe und einige mehr als Notfallzulassungen.
Dass neue Impfstoffe erst einmal neue Produktionsanlagen benötigen und nicht einfach mal schnell „in Indien“ produziert werden können, liegt auf der Hand. Die Firmen geben auf jeden Fall alles, um der Pandemie Einheit zu gebieten.
Hier ein Cicero-Beitrag, der das Versagen der EU noch einmal verdeutlicht. https://www.cicero.de/aussenpolitik/astrazeneca-vertrag-eu-kommission-offenlegung?fbclid=IwAR0TyJBTGlWIIJTi7fdjSyZ-xEh4cf__m17ZnRkY-tef6WboRJoLnuEZNaI
Zitat daraus: „Man lernt das in den ersten Monaten eines jeden wirtschaftswissenschaftlichen Studiums: Ist das Angebot knapp, aber die Nachfrage hoch, entsteht ein Anbietermarkt. Die Produzenten können unter diesen Bedingungen die Regeln diktieren. Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses gab es weder eine Impfstoffzulassung noch klare Daten über die Wirksamkeit des Vakzins. Zugleich lehnte die EU eine Übernahme der Haftung kategorisch ab. AstraZeneca konnte unter diesen Bedingungen wirtschaftlich gar nicht anders handeln, als alle Zusagen unter die „best reasonable efforts“ zu stellen. Das belegt auch die Tatsache, dass der Vertrag zwischen der EU und CureVac ganz ähnliche Regelungen enthält.“