Looking for something?

DIE AUTOREN

Karen Thiel
Seit mehr als 20 Jahren bin ich als selbständige Pharma-Expertin für die Bereiche Medical-Marketing und Patient Support tätig. Ich betreue Biopharma, RX, OTC/OTX, Supplements und apothekenexklusive Kosmetik-Marken als Managerin oder Consultant. Ein besonderes Spezialgebiet von mir ist der Aufbau von Patienten-Support-Programmen. Auch Online/Social-Media-Aktivitäten im Healthcare-Bereich zählen zu meinen Kernkompetenzen. Meine Firma heißt KT Projekt. Mein Angebot sowie eine Referenz- und Projektliste finden Sie unter www.ktprojekt.de.
Dr. Martina Hänsel
In der Pharmabranche arbeite ich seit mehr als 20 Jahren und bin seit über acht Jahren freiberufliche Beraterin mit Schwerpunkt auf medizinisch-wissenschaftliche Beratung, Kommunikation und Interim Management. Außerdem absolviere ich einen Master-Studiengang Regulatory Affairs.

LINKS ZU WICHTIGEN PHARMA-WEBSITES

Die Opioid-Krise in den USA – kann es auch Deutschland treffen?

Es ist schon seit ein paar Jahren in allen Medien: Die wirklich erschreckende Opioid-Krise in den USA. Sie begann in den 2000er Jahren. Der Wirkstoff Oxycodon, der seit den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts bekannt ist, ist auch in Deutschland und Europa auf dem Markt präsent. Warum sind aber bei uns bei weitem nicht so viele Menschen davon abhängig geworden? Wie ist dies zu erklären?

Medienberichte: Kein Patient soll Schmerzen leiden!

Die Autorin kann sich noch an Berichte aus den 90er und 00er Jahren in Deutschland erinnern, die sich darüber empörten, dass Patienten unnötig Schmerzen leiden würden, nur weil die deutschen Ärzte zu ängstlich seien Schmerzmittel zu verordnen.

Auch amerikanische Ärzte waren vor allem deshalb lange Zeit eher zurückhaltend, weil sie u.a. befürchteten, Patienten in die Abhängigkeit zu führen. Dann kam 1996 OxyCodon auf den Markt, was durch seine Galenik verzögert den Wirkstoff freisetzt und dadurch die Schmerzlinderung bis zu 12 Stunden anhalten soll. Der Effekt sollte ein geringeres Abhängigkeitspotential sein, weshalb OxyCodon auch für Schmerzen, beispielsweise bei Sportverletzungen, geeignet sein sollte. Der Artikel von www.spektrum.de (aus Februar 2018) bezeichnet diesen Zeitpunkt als den Anfang der Opioid-Krise in den USA.

Unterschiedliche Gesundheitssysteme

Aber eine Opioidkrise gibt es in Deutschland nicht. Warum? Interessant sind folgende Aspekte, die die Unterschiede zu Deutschland aufzeigen:

  • In den USA verteilte Purdue, der Anbieter von OxyContin, im Jahr 1996 Gratisgutscheine über Ärzte an Patienten, damit sie die erste Packung OxyContin kostenlos erhalten (vgl. spektrum.de 2018). So etwas ist in Deutschland verboten und absolut undenkbar! Das Heilmittelwerbegesetz (HWG) verbietet Werbung für verschreibungspflichtiger Präparate an Patienten.
  • In Deutschland gehören Opioide nach dem Betäubungsmittelgesetz auf ein BtM-Rezept (Betäubungsmittel-Rezept). Dafür gibt es arztbezogene Formulare. In den USA kann OxyContin nur von Ärzten verordnet werden, die bei der Drug Enforcement Administration (DEA) gelistet sind. Der Wirkstoff Oxycodone ist eine sog. „Schedule II“ kontrollierte Substanz. Ansonsten ist die Rezeptierung aber leichter als per BtM-Rezept.
  • Da in den USA kein zu Deutschland vergleichbares Gesundheitssystem existiert und dort Geld gegen Rezept Gang und Gäbe ist, fallen mißbräuchliche Rezeptierungen erst einmal nicht weiter auf. Es soll wohl auch Praxen gegeben haben, die Rezept gegen Cash ausgestellt haben und somit quasi als Drogendealer arbeiteten (vgl. spektrum.de 2018).
  • Eine Pharmakovigilanz-Abteilung in Deutschland nimmt Meldungen über Nebenwirkungen entgegen und muss diese innerhalb enger Fristen an das BfArM melden. Verantwortlich ist ein Stufenplanbeauftragter. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen kann jede Person melden, nicht nur Ärzte oder Apotheker. Meldungen können direkt an das pharmazeutische Unternehmen oder ans BfArM gesendet werden. Im Prinzip funktioniert es in den USA ähnlich, hatte aber anscheinend erst im Jahr 2007 Konsequenzen. Da war es aber bereits zu spät.
  • Jede Marketingaussage muss im Freigabeprozess des pharmazeutischen Unternehmens auf dem deutschen Markt vom Informationsbeauftragten auf Richtigkeit überprüft werden und den relevanten Gesetzen und Vorschriften entsprechen. Bei schweren Verstößen haftet die Person selbst, ggf. mit Gefängnis, also nicht das Unternehmen, damit keine Abhängigkeit von Managementvorgaben bestehen. Werbeaussagen, wie sie anscheinend Purdue in den USA getroffen hat, wären im Regelfall in Deutschland so nicht möglich gewesen.
  • In einigen Regionen der USA sind auffällig hohe Umsätze mit OxyContin verzeichnet worden. Die Pharmagroßhändler zogen keine Konsequenzen und meldeten diese Auffälligkeiten nicht. Ihnen war der Umsatz wichtiger, weshalb man sie in Ohio anklagte und sie aktuell einem Vergleich zustimmten. Regionale Konzentration von Verordnungen würde in Deutschland spätestens bei den gesetzlichen Krankenkassen (GKV) auffallen, die bereits regionale Auffälligkeiten bzgl. der Verordnung bei im Vergleich „harmlosen“ Medikamenten mit den Kassenärzten diskutieren.

Der Staat muss lenken und Grenzen aufzeigen

Oft beklagt man die Einflussnahme des Staates in den privaten Lebensbereich und auch in die unternehmerische Freiheit. Wie der Dieselskandal der deutschen Automobilbauer, die Korruptionsaffairen von Siemens und Co. sowie anderen Skandale in der Industrie zeigen, geht es ohne Regulierung nicht. Ein Unternehmen muss seinen Gewinn maximieren, es ist das Ziel eines jeden Unternehmertums. In welchem Rahmen und mit welchen Methoden das erlaubt ist, muss der Staat vorgeben und somit seine Bürger schützen.

In den USA wird das durchaus anders gesehen. Vorschriften und Gesetze werden als Einschränkung empfunden. Durch immens hohe Abfindungssummen werden die Unternehmen bei Fehlverhalten zur Kasse gebeten. Aber dann ist „das Kind schon in den Brunnen gefallen“ Wäre es nicht besser vorzubeugen? Dienen solche Urteile wirklich als Abschreckung? Wenn ja, dann dürfte es auch keine Morde mehr geben.

Dank des AMG, HWG und Betäubungsmittelgesetzes werden Patienten vor Krisen dieser Art in gewissem Maße geschützt. Es ist ein positives Beispiel für die Sinnhaftigkeit einer Lenkung durch den Gesetzgeber.

Aber: Es gab durchaus regulierende Maßnahmen der Behörden in den USA.

Die Historie aus Sicht der FDA

Die amerikanischen Zulassungsbehörde FDA hat den Ablauf der Krise detailliert aufgearbeitet und auch die eigenen falschen Einschätzungen dargestellt: https://www.fda.gov/drugs/information-drug-class/timeline-selected-fda-activities-and-significant-events-addressing-opioid-misuse-and-abuse

Seit Juli 2002 wird ein Label auf die Packungen gedruckt, dass OxyCotin abhängig machen könnte. Außerdem forderte die FAD eineb RMP-Plan (Risk Management Program) von Purdue. Die FDA beschreibt das wie folgt:

A Boxed Warning was added to reinforce the most important warnings, and information in the DRUG ABUSE AND DEPENDENCE section was updated. OxyContin’s manufacturer, Purdue Pharma, agreed to implement a Risk Management Program (RMP) to try to reduce misuse and abuse of OxyContin and issued a Dear Healthcare Professional Letter about changes to the label.

Über Jahre hat die FDA Ärzte über OxyContin informiert, Trainings für den verantwortungsvollen Umgang mit Opioiden orgasnisiert, Warnbrief(e) an die Firma Purdue gesendet, eine Forschung ins Leben gerufen,um Opioide zu entwickeln, die kein Abhängigkeitspotential haben. Es war alles anscheinend nicht effektiv, weil bereits zu dem Zeitpunkt soviele Menschen abhängig waren, dass sie auf das preiswertere Heroin umgestiegen sind und es auch schwieriger wurde an Verodnungen zu kommen.

Fehler auf Seiten der FDA:

  • 1996: Zulassung nicht nur für Tumorschmerzen sondern auch als kurzfristige Anwendung auch bei leichteren Schmerzen, z.B. bei Sportverletzungen. Es wird behauptet, dass Purdue Studien gefälscht, das Abhängigkeitspotential verharmlost zu haben und so die Zulassung erreicht habe. Das kann an dieser Stelle nicht überprüft werden.
  • 1996: Im Beipackzettel stand der Hinweis, dass OxyContin nicht zerbissen oder zermahlen werden dürfen, um den retardierten Effekt, der nicht abhängig machen sollte, zu erhalten. Somit war ein Tipp für Suchtwillige gegegeben. OxyContin wurde zermörsert, in Wasser aufgelöst, geschnupft und gespritzt.
  • Erst 2001 änderte die FDA die Indikation:

To help prescribers choose patients who would benefit from using OxyContin, the indication for using the drug was changed from “moderate to severe pain where use of an opioid analgesic is needed for more than a few days” to “management of moderate to severe pain when a continuous, around-the-clock opioid analgesic is needed for an extended period of time.”

Purdue Pharma und die Familie Sackler

Alle Quellen sprechen von einer aggressiven Werbung für das Präparat OxyContin. Ob dem so war, kann nicht überprüft werden, es können keine Beispiele mehr gefunden werden.

Ein Fakt kann wohl bestätigt werden, nämlich dass die Familie Sackler sehr reich geworden ist. Der ehemalige Leiter des Familienunternehmes, Richard Sackler, weist jede Verantwortung von sich. Trotzdem zahlte Purdue 600 Mio. $ im Jahr 2007 und bekannte sich schuldig die Nebenwirkungen verharmlost zu haben.

Breaking Bad und das Kartell des Schreckens

2007 wurde aber OxyContin immer noch reichlich verordnet. Außerdem gingen die Ärzte auch weiter auf andere Schmerzmittel, z.B. mit Fentanyl über. Fentanyl lässt sich übrigens mit einem gewissen Know How chemisch à la „Breaking Bad“ selbst herstellen. Somit wurden auch die anderen Anbieter von Schmerzmitteln mit in die Krise gezogen, u.a. Teva und Johnson&Johnson.

Insgesamt scheint es ein Kartell „des Schreckens“ aus Industrie, Großhändlern und Verordnern gewesen zu sein, die an der Sucht vieler verdienten.

Sie haben den Ruf weltweit der gesamten Industrie, der Ärzteschaft und der Zulassungsbehörden beschädigt. Ob als Bestrafung die Vergleiche reichen, ist fraglich. Gefängnisstrafen für einzelne Mittäter entspricht mehr dem Gerechtigkeitsempfinden.

Außerdem hat diese Krise vielleicht auch das Leben vieler echter Schmerz-Patienten erschwert, die erleben müssen, dass infolge der Ereignisse alle Seiten noch restrikiver Opioide einsetzen werden.

Opioide sind wichtig in der Schmerztherapie

Eine grundsätzliche Verteufelung von starken Schmerzmitteln und Opioiden kann nicht die Konsequenz aus der Opioidkrise der USA sein. Im Palliativbereich sind Oxycodon und Fentanyl unverzichtbar.

Natürlich gibt es auch in Deutschland von Schmerzmitteln abhängige Menschen, denn selbst durch die staatlich vorgeschriebene Überwachung kann man das nicht immer verhindern. Es gibt durchaus bei machen Menschen eine Veranlagung zur Sucht, wie man am Alkohol-, Tabak- oder dem Konsum von illegalen Drogen sehen kann.

Und genau diese Frage wird bei der gesamten Diskussion ausgeklammert: Welche Rolle spielen die Patienten bei der Opioidkrise selbst? Das wird in einem zukünftigen Blogbeitrag diskutiert.

 

Ein Kommentar

  1. Im Brigitte-Dosier „Schmerz, lass nach!“ (Brigitte 3/2020) ist ein Interview mit Dr. Johannes Lutz abgedruckt, das für den obigen Blogartikel interessant ist. Auch Dr. Lutz geht davon aus, dass es in Deutschland keine vergleichbare Opiatkrise geben kann, u. a. weil Opiate bei uns unter das Betäubungsmittelgesetz fallen und es ein Werbeverbot gegenüber Patienten für verschreibungspflichtige Medikamente gibt. Er sagt außerdem: „… Aber wenn diese akuten Phasen vorbei sind, muss man sich wieder von ihnen (Anm. d. Verf.: den Opiaten) verabschieden. Und darum muss sich jemand kümmern. Das ist in den USA völlig gescheitert. Die Menschen haben die Mittel bekommen und wurden sich selbst überlassen.“ (Seite 96 unten rechts, Brigitte 3/2020. Das Interview mit Dr. Johannes Lutz wurde von Antje Kunstmann geführt.)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert