… dann hat das mittlerweile Konsequenzen für den Pharmamarkt weltweit. Das Phänomen kennen wir alle: Lieferengpässe bei Arzneimitteln.
Am 5. April 2023 beschloss das Bundeskabinett deshalb den Entwurf des Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG). Das Gesetz soll die Versorgung mit Arzneimitteln in Deutschland stärken und die gestiegene Anzahl an Lieferengpässen* bekämpfen. Verschiedene Maßnahmen im Bereich der Festbeträge, Rabattverträge sowie der Versorgung mit Kinderarzneimitteln sind deshalb geplant.
„Auch in der Arzneimittelversorgung haben wir es mit der Ökonomisierung übertrieben. Das korrigiert die Bundesregierung mit Augenmaß. Wir machen Deutschland wieder attraktiver als Absatzmarkt für generische Arzneimittel. Wir stärken europäische Produktionsstandorte. Und wir verbessern die Reaktionsmechanismen. Lieferengpässe wie im jüngsten Winter wollen wir damit vermeiden.“ ()
Folgende Eckpunkte wurden beschlossen
- Festbeträge und Rabattverträge für Kinderarzneimittel fallen weg. Die pharmazeutischen Unternehmen können einmalig um 50 % des zuletzt geltenden Festbetrages ihre Preise erhöhen.
- In Europa (EU bzw. Eurozone) produzierte Antibiotika müssen bei Ausschreibungen der Krankenkassen berücksichtigt werden.
- Zuzahlungsbefreiungsgrenze künftig bei 20 % unter Festbetrag statt wie heute bei 30 %.
- Leichterer Austausch von nicht verfügbaren Präparaten in den Apotheken.
- Sind zu wenig Anbieter eines Präparates auf dem Markt, können Festbetrag oder Preismoratorium einmalig um 50 % angehoben werden.
- Ist ein Präparat im Rabattvertrag einer Krankenkasse, muss der Hersteller verbindlich den Bedarf für drei Monate auf Lager halten.
- Verbessertes Frühwarnsystem des BfArMs für drohende Lieferengpässe gegenüber Herstellern und Krankenhausapotheken.
- Erhöhung der Bevorratungspflicht für Krankenhausapotheken für parenteral anzuwendende Arzneimittel und für Antibiotika zur intensivmedizinischen Versorgung.
- Finanzieller Anreiz für die Forschung und Entwicklung von neuen Reserveantibiotika.
Apotheken sind kritisch
Das Retaxgebahren der Krankenkassen gegenüber den Apothekern spielt im Gesetzentwurf keine Rolle. Auch ist nur eine minimale Erhöhung (50 Cent!) der Vergütung für den Mehraufwand, der beim Management der Lieferengpässe anfällt, vorgesehen. Mathias Arnold, Vizepräsident der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, sagt dazu:
„Die Apotheken brauchen dazu Entscheidungsfreiheit und Handlungsspielraum, um beim Einlösen eines Rezeptes ein vorrätiges Ersatzmedikament abzugeben, statt den Patienten oder die Patientin zu vertrösten oder für ein neues Rezept zur Arztpraxis zurückzuschicken. … Wir brauchen keine zwei Verfügbarkeitsanfragen beim Großhandel, wenn doch ein Alternativpräparat im Warenlager der Apotheke vorrätig ist. Als Engpass-Ausgleich für den Personal- und Zeitaufwand brauchen wir keinen zweistelligen Cent-Betrag, sondern einen zweistelligen Euro-Betrag. Wir brauchen Retaxationssicherheit, damit die Krankenkassen die Zahlung für den Arzneimittelpreis und das Apothekenhonorar nicht verweigern. Und wir brauchen die Möglichkeit, auch jederzeit Rezepturen und Defekturen selbst herzustellen, wenn kein industrielles Arzneimittel lieferbar ist.“
Die Generikahersteller zweifeln
Der Kabinettsentwurf fokussiert sich vorwiegend auf Kinderarzneien und Antibiotika. Das reicht aber nicht, wie der BAH formuliert. Lieferengpässe sind in vielen Bereichen zu verzeichnen, selbst beim so wichtigen onkologischen Präparat Tamoxifen, was viele Patientinnen 2022 erleben mussten. Leider wurden, anders als angekündigt, die Krebsmedikamente nicht berücksichtigt, weil man den Erfolg des Gesetzes erst einmal mit Antibiotika testen wolle. Was für ein Hohn für alle Krebspatient:innen!
Manche Wirkstoffe werden heutzutage nur noch in einem Land der Welt produziert, nämlich in China. Durch die europäische Sparpolitik im Gesundheitswesen – Deutschland steht nicht alleine mit dem Sparzwang – ist vor vielen Jahren die Wirkstoffproduktion in immer preiswertere Länder abgewandert, einige Wirkstoffe komplett nach China. China liefert beispielsweise die Wirkstoffe nach Indien, die dann Arzneimittel für den Weltmarkt produzieren.
Und deshalb gilt heutzutage:
Fällt in China in einem pharmazeutischen Betrieb ein Sack Reis um und vernichtet eine ganze Produktion, ist der Rest der Welt davon betroffen.
SARTICON Consulting hat für ProGenerika einige Beispiellieferketten graphisch dargestellt und auch die Risiken, denen die Lieferketten ausgesetzt sind. Die Graphiken und Erläuterungen sind in der verlinkten PowerPoint-Präsentation zu sehen: https://www.progenerika.de/app/uploads/2022/04/Studie_Warum-wir-staerkere-Lieferketten-brauchen_2021.pdf
Daher fordert ProGenerika von Lauterbach eine Ausweitung des Gesetzes:
- Es darf nicht nur ein Land bzw. eine Region Wirkstoffe herstellen. „Eine verbindliche Vorgabe für regional diversifizierte Lieferketten und nicht bloß bei Antibiotika“ ist notwendig.
- Steigende Kosten und die Inflation gehen auch bei Generika-Herstellern nicht spurlos vorbei. Generika-Hersteller müssen mehr Geld verdienen dürfen und selbst Rabattvertragsarzneien sollten einen Gewinn erzielen.
- „Immer dann, wenn die Herstelleranzahl für ein Arzneimittel bedrohlich schrumpft, müssen Preissenkungsinstrumente wie Rabattverträge und Festbeträge ausgesetzt werden – und zwar für fünf Jahre. Das gibt Unternehmen Planungssicherheit, Investitionen zu tätigen und sich wieder an der Versorgung zu beteiligen.“
Auch die EU hat ein Pharma-Paket verabschiedet
Quasi parallel hat auch die EU ein Reformpaket zu Arzneimitteln beschlossen. Das steht drin:
- Es soll eine Liste besonders wichtiger Präparate angelegt werden, für die es Versorgungspläne geben soll, damit es nicht mehr zu Lieferengpässen kommt.
- Alle EU-Bürgerinnen und Bürger sollen Zugang zu neuen Arzneimitteln haben, nicht nur die westlichen und reicheren EU-Länder. Dafür wird das Patentschutzgesetz angepasst:
- Standardschutz: 8 Jahre statt bisher 10 Jahre
- Ausweitung des Patentschutzes auf 12 Jahre statt auf 10 Jahre, wenn das Präparat in allen EU-Ländern auf dem Markt kommt.
- Für die Entwicklung eines Medikamentes für „ungedeckte medizinische Bedarfe“ bzw. „eine neue therapeutische Indikation“ oder „vergleichende klinische Prüfungen“ kann eine weitere Patentverlängerung um ein halbes Jahr dazu kommen.
- Ein weiteres Jahr Patentschutz kann der Hersteller beantragen und als Gutschein erhalten, wenn er ein bahnbrechendes Antibiotikum gegen resistente Erreger entwickelt. Der Gutschein kann auch verkauft werden. Die Gutscheine sind allerdings auf 10 innerhalb von 15 Jahren begrenzt.
- Schnellere Zulassung neuer Medikamente durch die EMA:
- 180 Tage statt wie bisher 210 Tage bis zur CHMP-Opinion (Einschätzung des Arzneimittels)
- 46 statt 67 Tagen bis zur Zulassung
- Digitalisierung und Entbürokratisierung.
- Größere Transparenz der öffentlichen Finanzierung von Arzneimitteln.
- Umweltschutzregeln sollen stärker durchgesetzt werden.
Einige Punkte sind sicherlich begrüßenswert, aber es fehlen die Anreize, um die Produktion in die EU zu zurückzuholen und zu halten. Denn gerade Generika haben sich Richtung Asien orientiert, Originalhersteller, die die neuen Patentschutzregeln nutzen können, produzieren sowieso häufiger als Generikaanbieter in Europa oder Nordamerika. Generikaanbieter kommen aber in der Liste der EU zu wenig vor.
Die EU-Parlamentarier halten sich in ihrer Reform neben den o. g. Punkten sehr bei dem Thema Arzneimittelpreise von innovativen, patentgeschützten Arzneimitteln auf. Das hat mit dem Thema „Bekämpfung von Lieferengpässen“ wenig zu tun.
Transparenz zu Arzneimittelpreisen jetzt!
Über Arzneimittelpreise wird viel und heftig gestritten. Fakt ist, im Generikabereich sind in Deutschland die Arzneimittel viel zu billig. Der Markt ist nicht wirklich lukrativ, deshalb haben sich einige Hersteller sogar zurückgezogen. Die anderen produzieren beim billigsten Anbieter in Asien. Die prekäre Situation wird nur langsam bei der Presse und in der Bevölkerung bekannt. Eine Ursache ist die fehlende Transprarenz des Arzneimittelmarktes. Die heimlichen Verhandlungen zwischen Herstellern und Kassen sind ein gutes Beispiel für Intransparenz.
Gleichzeitig gehört auch mehr Transparenz in die Preisgestaltung der Originalhersteller. Wer ein neues Präparat auf den Markt bringt, soll seine ganze Forschungskette, von Fehlschlägen bis zum marktreifen Präparat aufzeigen, um seinen hohen Preis zu rechtfertigen. Dann können beide Seiten fairer diskutieren. So kann ein Preis gefunden werden, der Innovationen weiterhin fördert ohne „moralisch verwerflich“ aufzufallen.
Fazit von pharma-net-blog
Lauterbach erkannte, dass die Ökonomisierung im Gesundheitssektor zu weit gegangen ist. Daher ist sein Gesetz ein Schritt in die richtige Richtung. Es geht aber nicht weit genug. Denn das sog. „Klumpenrisiko“, also die Produktion von Wirkstoffen und Arzneimitteln in Asien, wird damit nicht ausgemerzt. Es bedarf einer klaren Bevorzugung von europäischen Produktionen. Hier muss sich auch die EU bewegen, denn in ihren Reformvorschlägen feht es ebenso.
Für Deutschland gilt:
- Schluss mit Exklusiv-Rabattverträgen: Abschaffung der Exklusiv-Rabattverträgen durch die Krankenkassen! Warum soll ein Generika-Hersteller ein Arzneimittel auf Vorrat halten, wenn es an keinem Rabattvertrag beteiligt ist? Rabattverträge sind grundsätzlich anzuzweifeln, sie haben die einseitige Verlagerung der Arzneimittelproduktion Richtung Asien gefördert.
- Hersteller müssen verpflichtet werden mehrere Lieferanten zu haben: Leichter gesagt als getan, denn wenn nur noch in China ein Wirkstoff in einer Produktionsstätte produziert wird, ist das schlicht nicht möglich. Hier ist die EU gefragt, die pharmazeutische Produktionsstätten innerhalb der EU fördern muss und so vielleicht Ost- und Südosteuropa aus dem Armenhaus herausholen kann.
- Höhere Preise für Arzneimittel aus nachweislich europäischer Produktion und europäischen Lieferketten: Die Betonung liegt hier auf nachweislich, denn es geht nicht, dass beispielsweise ein Präparat als europäisch gilt, wenn in Europa nur die Umverpackung produziert wird, ansonsten aber ein komplett asiatisches Präparat ist. Das kennen wir schon von der Textilindustrie. Die Vorschläge der EU zur Patentverlängerung sind gut, nutzt aber nur Originalherstellern etwas.
- Patient:innen müssen für den medizinischen Fortschritt mehr zahlen: Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Wir leisten uns ein in der Tat teures Gesundheitssystem zu einem kleinen Krankenkassenbeitrag. Kleiner Krankenkassenbeitrag? Ja, für die Leistung, die wir im Laufe unseres Lebens erhalten, weshalb wir immer älter werden, ist es immer noch günstig. Und das liegt nicht nur an teuren Medikamenten für chronische Erkrankungen und Krebs, wie die Presse gerne suggeriert. Zuviele fremde Töpfe schöpfen aus den Krankenkassenbeiträgen (Stichwort: Kuren und Lohnfortzahlung) und zuviele Menschen bekommen Leistungen für einen pauschalen Familienbetrag. Eine Diskussion über Kopfpauschalen und Selbstbeteiligungen darf und sollte man gerne wieder diskutieren. Patient:innen sind nicht immer die Opfer.
Anmerkungen
*Definition von Lieferengpässen lt. BfArM: „Als Lieferengpass wurde im Pharmadialog eine über voraussichtlich 2 Wochen hinausgehende Unterbrechung einer Auslieferung im üblichen Umfang oder eine deutlich vermehrte Nachfrage, der nicht angemessen nachgekommen werden kann definiert. Vorhersehbare Lieferengpässe sollen nach derzeitiger Festlegung spätestens 6 Monate im Voraus, unvorhergesehene Engpässe unverzüglich über das Lieferengpass Portal auf der PharmNet.Bund Startseite – Für Unternehmen gemeldet werden.“
DAP-Patient:innen-Information zu Lieferengpässen: https://www.deutschesapothekenportal.de/download/public/patienteninformationen/dap_patienteninformation_lieferengpaesse.pdf
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